Ist Rick Deckard ein Replikant?
Gerüchte, Spekulationen und Mythen rund um bekannte Science-Fiction- und Horrorfilme
von André Günther
Wahrheit und Lüge, Fakt und Fiktion, Mythen und Legenden - wo sollten diese Dinge näher zusammenliegen als beim Film? Weshalb sehen wir uns Filme an? Um unterhalten zu werden, um in fremde Welten entführt zu werden, um die Realität für ein paar Stunden vor der Kinotür zu lassen - und vielleicht noch aus tausend anderen Gründen. Was allen Filmen gemeinsam ist, abgesehen vielleicht vom Dokumentarfilm, ist die Eigenschaft, uns mit Fiktionen zu konfrontieren, die ursprünglich auf ganz realen Vorkommnissen, wie z.B. den Dreharbeiten, basieren, die aber später auf der filmischen Ebene zu einer ganz anderen Realität werden, nämlich zur Handlung des Films. Was wir auf der Leinwand sehen, sind ja letztlich nur Schauspieler bei der Ausübung ihres Berufes, der darin besteht, Personen darzustellen, die es in Wahrheit gar nicht gibt, und Handlungen auszuführen, die nie wirklich stattgefunden haben. Diese Ambivalenz, einerseits Realität abzubilden, andererseits aber damit eine ganz eigene Realität zu schaffen, führt letztlich auch dazu, daß sich um die Entstehungsgeschichte vieler Filme die wildesten Gerüchte, Spekulationen, Mythen und sogar Legenden ranken. Weshalb sonst sollte es eine Unmenge von Filmbüchern geben, die sich einzig und allein mit der Entstehungsgeschichte diverser Filme befassen, die Augenzeugen zu Worte kommen lassen, mitunter sogar von diesen verfaßt werden. Wobei diese Bücher wiederum als Grundlage für Filme dienen können (siehe beispielsweise WHITE HUNTER, BLACK HEART von Clint Eastwood, der die Entstehungsgeschichte von AFRICAN QUEEN schildert). Derartige Verfilmungen tragen dann wieder dazu bei, die schon kursierenden Mythen und Legenden zu untermauern oder durch eine andere Sichtweise ganz neue hinzuzufügen.
Generell kann die Entstehung solcher Legenden verschiedene Ursachen haben: a) Spekulationen kursieren um Dinge, die als Fehler beim Herstellungsprozeß eines Filmes eingestuft werden können, wie z.B. simple Anschlußfehler, fehlende/überzählige Dialogzeilen, ein unausgereiftes Drehbuch oder technische Pannen, b) An einem Film Beteiligte wollen sich durch das Herausstellen ihres persönlichen Anteils am Erfolg des Films profilieren, c) Bedingt durch b) kommt es zu sich widersprechenden Aussagen von Beteiligten, d) Erinnerungen verblassen, wodurch es zu unterschiedlichen Aussagen von Beteiligten kommt, e) Es gibt niemanden mehr, der aus erster Hand über die Entstehung eines Filmes berichten kann - fehlende Informationen führen zu wilden Spekulationen.
Als ein Meister der Mythen und Legenden muß sicherlich George Lucas mit seinem auf STAR WARS gegründeten Imperium gelten. Jahrelang wechselten sich Berichte über eine baldige Fortsetzung der Sternen-Saga (laut einer Aussage von George Lucas zum Start von RETURN OF THE JEDI sollte die nächste Trilogie bereits 1986 in den Kinos starten) mit Meldungen ab, die besagten, daß Lucas STAR WARS-müde sei. Immer wieder wurden neue Produktionsdaten für die nächste Trilogie genannt und verstrichen, ohne daß etwas passiert wäre. Lucas beschäftigte sich lieber mit anderen Dingen, u.a. mit seiner TV-Serie YOUNG INDIANA JONES, vor allem aber mit seinem riesigen Technologie- und Merchandise-Konzern. Immer mehr STAR WARS-Ableger wurden für den Buchmarkt geschaffen, der Mythos STAR WARS wurde beständig ausgeweitet. Mit SHADOWS OF THE EMPIRE ging man sogar soweit, neben dem Roman auch Trading Cards und einen Soundtrack zu veröffentlichen. Gleichzeitig wurden STAR WARS, THE EMPIRE STRIKES BACK und RETURN OF THE JEDI in unregelmäßigen Abständen neu auf den Video-, bzw. Laserdisc-Markt geworfen, jedesmal in verbesserter Form, damit die Fans auch ja einen Grund hatten, sich die Filme noch einmal zu kaufen. Heute gehört die STAR WARS-Trilogie zweifellos zu den am besten aufbereiteten Video-Konserven überhaupt.
Dennoch verlangte es die Anhänger von Luke Skywalker und Han Solo nach mehr - nach den Filmszenen nämlich, die damals unter den Schneidetisch gefallen sind. Da wäre z.B. die Begegnung zwischen Luke Skywalker und Biggs Darklighter auf Tatooine, sowie das Aufeinandertreffen von Han Solo und Jabba the Hutt im ersten Teil der Saga oder der Angriff der Wampas auf die Rebellenstation in THE EMPIRE STRIKES BACK. Auch die Heirat zwischen Han und Leia am Ende von RETURN OF THE JEDI, sowie eine Sandsturm-Szene auf Tatooine zu Beginn des Films, sind bislang nie gezeigt worden. Kein Zweifel, diese Szenen existieren, wie diverse Fotos belegen. Doch warum bekommt sie niemand zu sehen? Spekulationen sind damit natürlich Tür und Tor geöffnet, noch dazu, weil George Lucas' Äußerungen bezüglich dieser Szenen ziemlich lapidar sind. Die technische Qualität sei nicht gut genug gewesen, meint er beispielsweise über die Sandsturm-Szene - eine wahrlich erschöpfende Auskunft. Schließlich kündigte Lucas an, seine Trilogie nochmals in die Kinos zu bringen, und zwar runderneuert und um neue Szenen erweitert. Eine Ankündigung, die zunächst kaum jemand glauben mochte.
Als jedoch konkrete Startermine bekanntgegeben wurden, keimte unter den STAR WARS-Jüngern die Hoffnung auf, nun endlich all die verloren geglaubten Szenen sehen zu können. Neue Spekulationen machten die Runde... Und so geht diese unendliche Geschichte weiter - bis wir endlich die nächsten STAR WARS-Filme zu sehen bekommen. Die Dreharbeiten sollen übrigens diesen Sommer in den englischen "Leavesden"-Studios beginnen...
Auch drei Filme von Ridley Scott schmoren schon seit längerem in der Gerüchteküche: ALIEN, BLADE RUNNER und LEGEND. Hierbei ist ALIEN der Film, der noch am einfachsten zugänglich ist. Auf Laserdisc liegt eine Collector's Edition vor, die all jene Szenen enthält, die damals aus dem Film herausgeschnitten wurden, u.a. die komplette Sequenz, in der Ripley die von dem Außerirdischen eingesponnenen Crewmitglieder findet, wie auch einige nicht komplettierte Sequenzen. Offen bleiben aber weiterhin alle Fragen, die mit der Herkunft des Aliens und dem fremden Raumschiff zu tun haben, deren Beantwortung leider auch von keinem der folgenden ALIEN-Filme versucht wurde.
Ein besonderer Mythos rankt sich um BLADE RUNNER: Nämlich der, daß Rick Deckard (Harrison Ford) in Wahrheit ein Replikant ist. Was für diese These spricht, ist der Umstand, daß Deckards Kollege Gaff von Deckards (einprogrammiertem?) Einhorn-Traum weiß, was er durch das Origami-Einhorn vor der Wohnungstür des Replikanten-Jägers am Ende des Films belegt. Unterstützt wird dies durch den aus dem Off eingespielten Satz Gaffs "It's too bad she won't live... but then again, who does?" und durch seine Bemerkung "You've done a man's Job, Sir.", nachdem Deckard den Replikanten Batty zur Strecke gebracht hat. Allerdings verliert so die Liebesbeziehung zwischen Deckard und Rachael ihre interkulturelle Bedeutung. Laut Paul M. Sammon, Autor des Buches "Future Noir: The Making Of Blade Runner", läßt zumindest der Director's Cut keinen Zweifel daran, daß Deckard ein Replikant ist. Zudem räumt Sammon in seinem Drehbericht mit der Spekulation auf, Deckard selbst könne jener sechste gesuchte Replikant sein, der im Film zwar erwähnt wird, der aber an keiner Stelle auftaucht. Dies sei bloß ein Dialogfehler, da nach Drehbeginn die Rolle des sechsten Replikanten namens Mary (Stacey Nelkin) aus Budgetgründen gestrichen wurde.
Was Scotts LEGEND angeht, so soll es angeblich eine zweistündige Fassung dieses Fantasystreifens geben. Scott selbst gibt an, zunächst eine 125 Minuten lange und dann eine 113 Minuten lange Fassung erstellt zu haben, wobei er mit letzterer am zufriedensten war. Diese Version fand jedoch nicht die Gnade des damaligen Verleihs, dem der Film zu ruhig und elegisch angelegt war und der ihn mehr auf ein jugendliches Publikum zugeschnitten haben wollte. Gegen den Willen des Regisseurs wurde der Film für den europäischen Markt auf 95 Minuten, für den amerikanischen Markt sogar auf ca. 90 Minuten heruntergekürzt, wobei es diverse Unterschiede in der Anordnung bestimmter Szenen und des Inhalts gibt. Außerdem wurde die von Jerry Goldsmith für die Langfassung komponierte Musik völlig umgestellt und ihres inneren Zusammenhangs beraubt. In der US-Fassung ist Goldsmiths Musik überhaupt nicht zu hören, stattdessen wurden die schwülstigen Bilder mit Stücken der Gruppe "Tangerine Dream" unterlegt. Um Ridley Scott nachträgliche Korrekturen zu erschweren, wurden große Teile der entfernten Szenen vernichtet. Einzig der vor ein paar Jahren liebevoll restaurierte Soundtrack mit der Musik von Jerry Goldsmith gibt heute noch etwas davon wieder, wie der Film in seiner Gesamtheit angelegt war. Übrigens versuchte derselbe Verleih in den USA einige Jahre später den gleichen Frevel mit Terry Gilliams BRAZIL - glücklicherweise erfolglos.
Auch Alfred Hitchcocks PSYCHO hat seine Legende, die besagt, daß der Meister ausgerechnet die berühmte Duschszene gar nicht selbst inszeniert haben soll. Gerüchten zufolge soll Hitchcock nicht einmal am Set gewesen sein und ein angeheuertes japanisches Filmteam (!), bzw. sein langjähriger Mitarbeiter Saul Bass (Hitchcocks Titelgestalter) habe die Arbeit erledigt. Außer Frage steht, daß Bass für die betreffende Sequenz ein Storyboard zeichnete und mit einer Schauspielerin Probeaufnahmen machte, um den späteren Zusammenschnitt auszuprobieren. Richtig ist auch, daß die Sequenz mit ihrem Stakkatorhythmus mehr mit Bass' sonstigen Arbeiten gemein hat, als mit dem typischen Hitchcock-Stil. Gegen den Duschszene-Regisseur Bass spricht, daß ein Kontrollfanatiker wie Hitchcock sich für gewöhnlich von niemandem das Ruder aus der Hand nehmen ließ. Zudem wird in der einschlägigen Fachliteratur immer wieder gerne darauf hingewiesen, daß Hitchcock ein Voyeur war, der sich niemals die Chance hätte entgehen lassen, Janet Leigh unter der Dusche zu sehen. Dies wird auch in Janet Leighs Buch über die Dreharbeiten zu PSYCHO deutlich beschrieben.
Dieser Artikel erschien in Spookie Nr.5, Mai 1997
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